Grundbetrachtungen zur musikalischen Entwicklung bei Anders Eliasson anhand der Vierten Symphonie

Von Oliver Fraenzke

I.

In seiner Musik blieb Anders Eliasson ein Einzelgänger, ohne direkte Vorläufer, ohne benennbare Schule oder stilistische Ausrichtung. Und das, obgleich wir seine Musik beim Hören zu verstehen scheinen: Die Metamorphosen der Themen vollziehen wir mit und wir erkennen eine eiserne Geschlossenheit der Form, bleiben aufmerksam im ewig fortziehenden Strom der Töne gefangen. Eliasson ist zugleich extrem modern und – im Vergleich mit der heutigen Geräuschmusik – traditionell. Er bleibt im System der zwölf Töne verankert und wandte sich offen gegen modernistische Klangexperimente sowie den Leerlauf des Minimalismus. „Ich war schockiert,“ sagte Eliasson in einem Interview mit Christoph Schlüren, das heute als „Autobiographischer Dialog“ eine Grundlage der Eliasson-Forschung darstellt[i], „zumal als ich später in der Kompositionsklasse von Ingvar Lidholm anfing – weil ich plötzlich jede Verbindung zur Musik in mir selbst verlor, als ich mit den ‚echten‘ Komponisten in Berührung kam.“ Weiter: „Es wäre sehr einfach gewesen, mich auszudrücken in Partituren à la Riley. Aber ich tat es nicht. Ich spürte eine Antipathie.“[ii]

All dies musste Eliasson studieren und an sich erfahren, um einen eigenen Weg zu erkunden, den er schließlich in Form eines musikalischen Alphabets ausdrückte. Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um ein System oder ein Regelwerk, sondern schlicht um eine Palette von Möglichkeiten und Ausdrucksweisen, die zwar an sich die Möglichkeiten einzugrenzen scheint, zugleich aber auf größtmögliche Freiheit pocht. Wie jeder Mensch beim Sprechen eine andere Ausdrucksweise, einen anderen Stil hat, so auch in der Musik. Eliasson hat seinen in diesem Alphabet ausgedrückt: Es ist die konzentrierte Darstellung derjenigen Eigenheiten und Besonderheiten, die ihn auszeichnen.

Obwohl die Partituren Eliassons transparent wirken und den Musikern klar machen, was sie auf mechanischer und auch teils auf emotioneller Ebene zu tun haben, verschließen sich die Noten jeglicher Art von Analyse oder tiefer gehender Betrachtung unter die scheinbar selbst erklärende Oberfläche. Bevor wir nun also einen detaillierteren Blick auf ein Werk wagen, in diesem Falle die Vierte Symphonie, sollten wir uns zunächst über grundlegende Merkmale Eliassons im Klaren sein, auch wenn sich diese uns höchstens fragmentarisch offenbaren und größtenteils chiffriert bleiben.

 

II.
(II.a               Tonale Betrachtungen)

Die Musik Eliassons ist durchgehend tonal, wenngleich nicht auf eine traditionelle Weise. Die Musik schwebt nicht frei im Raum, sondern wird durch natürliche Gravitation immer wieder zu einem Grundton bzw. zu einem ‚Buchstaben‘ des Alphabets hingezogen, der entweder wirklich erreicht oder auch nur kurz gestreift wird, bevor der Fluss die Töne wieder hinfort zieht in Richtung eines anderen Zentrums. In der Substanz ist dieses Prinzip nicht unähnlich zur Musik des von Eliasson als Ideal angesehenen Komponisten Johann Sebastian Bach, die auch kontinuierlich voranschreitet von einem Anziehungspunkt zum nächsten.[iii] Musik ist H2O – Melodie, Harmonie und Rhythmus –, stets im Fluss – und dies bei beiden Komponisten.

Bisher konnte noch keiner die Skizzen zu Eliassons tonalem Alphabet vollständig ‚knacken‘ und so einen Schlüssel zur Untersuchung seiner Werke bieten. Ich bezweifele auch sehr, dass je ein Code gefunden werden kann, da Eliasson seinem unerschöpflichen Alphabet in jedem Werk immer wieder neue Möglichkeiten abgerungen und sich vehement gegen die Existenz eines geschlossenen Systems gewehrt hat. Eliasson sprach darüber: „Das tonale System kann sich weit, extrem weit vom Fundament entfernen, aber es ist für mich auch dann immer auf das Fundament bezogen. Ich denke nicht, dass bis heute irgendjemand das in meinem Werk entdeckt hat […] Es macht aber auch gar nichts aus, andererseits. Und auch ich könnte darüber nicht schreiben.“ [iv]

(II.b               Intervallische Betrachtungen)

In Eliassons Skizzen zu seinem tonalen Alphabet finden wir zunächst zwei Modi: einer aus dem Dorischen, einer aus dem Lydischen abgeleitet, wobei sie für Eliasson die Wirkungs-Charakteristika dieser Kirchentonarten nicht erfüllen. Aus den Modi leitete er zwei Akkorde ab, die recht aufschlussreich sind: d-f-h-c und c-d-a-b. In beiden dieser Akkorde finden wir eine kleine Sekund, darüber hinaus in Grundstellung in einem eine große Sekund und im anderen die kleine Terz. Kehren wir die Akkorde auf verschiedene Weisen um, so eröffnet sich uns ein ganzer Kosmos an intervallischen Ressourcen: Der erste Akkord beinhaltet je nach Anordnung der Töne jedes Intervall mit Ausnahme der großen Terz beziehungsweise von deren Gegenstück, der kleinen Sext; der zweite Akkord jedes Intervall mit Ausnahme des Tritonus. Folglich halten diese Harmonien das Potential der aus ihnen resultierenden melodischen Möglichkeiten beinahe uneingeschränkt offen, legen in ihrer Grundstellung parallel den Grundstein für den Fokus auf die engen Intervalle der kleinen und großen Sekund sowie der kleinen Terz.

Die kleine Terz spielt für Eliasson eine besondere Rolle: Schichtet man sie, so erhält man (wie auch bei Schichtung von großen Sekunden) eine Tonleiter frei von Quinten oder Quarten, somit losgelöst von grundtönigen Bezügen. Diese Kleinterz-Tonleiter kennen wir harmonisch betrachtet als voll verminderten Septakkord: ein Akkord, der laut der klassischen Harmonielehre acht mögliche Zielakkorde durch Quintfall ansteuern kann, also die Möglichkeiten ebenso offen hält.

Eliasson forschte weiter, um die Kleinterzschichtung durch den Quintenzirkel zu ergründen – also durch das elementarste Intervall, das bereits aus der Obertonreihe als maßgebend für alle musikalischen Bezüge definiert wird. Dazu zeichnete er eine dreieckige Figur, die spiralmäßig nach außen hin immer größer wird bzw. sich nach hinten in den dreidimensionalen Raum entfaltet – vorzustellen wie ein dreiseitiges Prisma. Auf jede Seite schrieb er einen Grundton in Reihenfolge des aufsteigenden Quintenzirkels. Nachdem der gesamte Zirkel einmal durchlaufen wurde, finden wir auf jeder Seite (bzw. im dreidimensionalen Raum hintereinander) exakt die Töne eines von oben nach unten zu lesenden voll verminderten Septakkords (C/A/Fis/Es – G/E/Cis/B – D/H/As/F). Verfolgen wir die Struktur im dreidimensionalen Raum, so kann jeder Schenkel eines Dreiecks und somit jeder Ton Mitglied in drei verschiedenen Dreiecksgruppen sein: 1) mit den beiden vorherigen Schenkeln; 2) mit dem vorherigen und mit dem nachfolgenden Schenkel; 3) mit den beiden nachfolgenden Schenkeln. Der Ton E zum Beispiel ist im Dreieck E/H/Fis enthalten, ebenso in A/E/H und in D/A/E. Harmonisch betrachtet resultieren so je nach Anordnung der Töne Akkorde, die man vor allem aus dem Jazz kennt, wo sie als „Suspended Chords“ bezeichnet werden: Die Terz des Dreiklangs wird entweder nach unten in die große Sekund oder nach oben in die reine Quart alteriert. Für das angeführte Beispiel entstehen so im ersten Fall je nach Umkehrung und Positionierung Esus2 (E-Fis-H) oder Hsus4 (H-E-Fis), im zweiten Asus2 (A-H-E) oder Esus4 (E-A-H) und im dritten Dsus2 (D-E-A) oder Asus4 (A-D-E) – das entstehende Muster kann sequenzartig weitergeführt werden. Die durch Quintschichtungen entstandenen Harmonien eint das Charakteristikum der großen Non beziehungsweise großen Sekund. Diese haben für Eliasson eine „runde“ Wirkung: Während er die beiden genannten Harmonien d-f-h-c und c-d-a-b aufgrund ihrer kleinen Sekund als „eckige Akkorde“ bezeichnete, sah er die aus drei oder gar vier Quinten zusammengesetzten als „runde Akkorde“.

(II.c                Formale Konzeption)

Die letzte Betrachtung, die als Grundlage unentbehrlich ist, führt zur formalen Konzeption. Eliasson versuchte, die Rolle des Komponisten so gering und passiv wie möglich zu gestalten, sprich: dem natürlichen Verlauf der Musik zu folgen, statt ihn aktiv zu beeinflussen. Er folgte den Motiven, Harmonien und ihrem sich entwickelnden Geschehen, ebnete lediglich die Bahn für einen reibungslosen Ablauf.[v] Dies bedeutet, Eliasson sah sich lediglich verantwortlich für den Ausgangspunkt, die Keimzelle, aus der alles weitere von sich aus entspringt. Die einmal gefundenen Zellen beobachtete er und gab ihnen den Platz, den sie zur Entfaltung benötigen, ohne dabei überstrapaziert zu werden, oder frühzeitig zu verstummen. Die Musik beginnt also als persönliches Statement und entwickelt sich aus dem Anfangsmaterial heraus hin zu einer Unpersönlichkeit, bis sie zu einem im Beginn bereits enthaltenen Schluss führt. Diese Anschauung von Musik gemahnt deutlich an Celibidaches musikalische Phänomenologie und tatsächlich sprach dieser: „Eliassons Musik könnte für unsere Zeit eine Bedeutung bekommen wie diejenige von Bartók in seiner Zeit“.[vi]

 

III.

(III.a              Die Vierte Symphonie)

Die Vierte Symphonie ist auf das Jahr 2005 datiert, die Uraufführung durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Christoph Poppen fand am 12. Januar 2007 im Münchner Herkulessaal der Residenz statt im Rahmen der von Karl Amadeus Hartmann gegründeten Musica Viva.

Nur ein Jahr später spielte Sakari Oramo das Werk mit dem Royal Stockholm Philharmonic im Konserthuset Stockholm; 2015 sogar mit dem Deutschen Sinfonieorchester in der Berliner Philharmonie.

Auch John Storgårds und Andrew Manze nahmen das Werk in ihr Repertoire auf. Als bislang letzter studierte Johannes Gustavsson das Werk ein und führte es mit den Göteborger Symphonikern auf.

Für ein in den 2000ern komponiertes Werk hat Eliassons 4. Symphonie somit eine erstaunlich hohe Aufführungsrate, trotz anfänglich durchwachsener Besprechungen. Nach der Uraufführung in der Avantgardehochburg der Musica Viva kamen einige Stimmen auf, das Werk sei zu rückwärtsgewandt und passe nicht in das Umfeld. Nach Manzes Aufführung mit dem Scottish BBC Symphony Orchestra am 25. Juni 2011 in Glasgow schrieb Kate Molleson: „If nothing else, it contains one of the best flugelhorn solos in orchestral repertoire.“[vii]

Im November 2019 hieß es dafür in Dagens Nyheter: „Deutlich erkennbar ist ein stürmischer romantischer Zug – Eliassons Verbindung zur Tradition. Es ist ein brillantes Werk.“[viii]

Diese Symphonie, die laut Eliasson „keine Gefangenen macht“[ix], betört äußerlich durch immense orchestrale Effekte mit derben Schlagzeugpassagen und grellen Tutti sowie mit einem hinreißenden Flügelhornsolo im Mittelteil, innerlich durch die Stringenz des formalen Ablaufs und die Einheit allen musikalischen Geschehens, die sich auf eine Keimzelle zurückführen lässt. Das Werk hat eine Spieldauer von etwa 25 Minuten und gliedert sich in drei Abschnitte, schnell-langsam-schnell, wobei es aufgrund der motivischen und harmonischen Verbundenheit zu weit ginge, diese als eigenständige Sätze zu bezeichnen[x], zumal die Tempowechsel stufenweise geschehen.

Wie aber zeigen sich nun die angerissenen Grundcharakteristika in diesem Werk? Wohlgemerkt entstand diese Symphonie über ein Jahrzehnt nach den Skizzen, die zu den theoretischen Basisbetrachtungen führten: entsprechend ausgearbeitet und erweitert liegt das Prinzip hier vor, dennoch durchaus ersichtlich.

(III.b              Das musikalische Grundmaterial)

Um eine größtmögliche Entfaltung und Distanzierung vom Ausgangpunkt zu ermöglichen, reduziert Eliasson wie in den meisten seiner Werke das Grundmaterial auf ein Minimum. Die Vierte Symphonie beginnt mit einem durch die Besetzung von Trompeten und Hörnern markigen Motiv einer absteigenden großen Sekund: Fis-E. Dieses wird doppelt beantwortet: zunächst durch die Holzbläser und ersten Violinen mit der aufsteigenden Sekund E-Fis, dem die Flöten das hektisch anmutende Motiv A-G-Dis beimischen; dann durch drei der insgesamt sechs Hörner, die zunächst eine schnelle Wechselnote Fis-E-Fis spielen, die nach gewisser Zeit wieder ins E kippt und von dort chromatisch zur modulierten Wiederholung leitet, diesmal mit dem Kernmotiv D-C. Der durch zeitliche Distanz von der Wechselnote isolierte Fall Fis-E-Dis, also die Kombination einer fallenden großen und einer fallenden kleinen Sekund, wird sich als zentral erweisen. Bereits ab Takt 11, also nach der transponierten Wiederholung des Ausgangsmaterials, beginnen die ersten Geigen, das absteigende Dreitonmotiv aus einer großen und einer kleinen Sekund zu etablieren, auf welches zumeist ein Sprung bzw. ein größeres Intervall folgt. Damit ist der ganze Kosmos bereits vorgestellt.

Die Wiederholung der ersten fünf Takte, wenn auch in modulierter Form, manifestiert ihre Bedeutung. Wörtliche Wiederholungen sind mehr als untypisch für Eliasson, umso signifikanter stechen sie hervor. Der Hörer soll verstehen, was in diesen Takten passiert, nicht zuletzt, weil sie im gesamten Werk nicht noch einmal auf diese Weise vorkommen, allerdings die Basis für alles Nachfolgende bilden. Diese Art doppelte Präsentation einer neuen Idee kennen wir bereits aus der Musik Debussys, dem die Modernität seiner Einfälle bewusst war und der sie dem Hörer deshalb doppelt vorhielt, damit dieser sie überhaupt verstehen kann.

Beim Hören der Symphonie fällt auf, dass das Kernmotiv einer fallenden großen Sekund immer wieder deutlich zum Vorschein kommt. Damit etabliert es sich als Konstante, die das gesamte Werk durchzieht. Folglich ist es das Material aus den Beantwortungen, das sich in ständiger Metamorphose fortspinnt und den musikalischen Entwicklungsprozess definiert. Natürlich wird auch das Kernmotiv im Lauf der Symphonie variiert, was ja alleine durch die erste Beantwortung mit der Richtungsumkehr geschieht, doch behält es fast bei jedem Erscheinen seine durchschlagende Energie. In den ersten fünf Takten errichtet Eliasson also bereits die Grundlagen einer ganzen Weltordnung in (man möchte sagen: klassischer) Dualität.

(III.c               Motivische Entwicklung)

Für den weiteren Verlauf besonders spannend gestaltet sich die zweite Beantwortung des Kernmotivs, also die Wechseltonbewegung Fis-E-Fis und der abschließende Fall von Fis zu E und Dis. Die schnelle Wechseltonbewegung legitimiert Triller und längere Pendelbewegungen als wiederkehrendes motivisches Element, lässt sich zudem als Basis für verschiedene Motive verwenden. So kombiniert es Eliasson beispielsweise mit einer fallenden Quart, A-G-A-E (T. 27), was eine Zeit lang in sich Grundlage für verschiedene Metamorphosen bildet: So wird es direkt beantwortet mit As-G-As-F und dann mit As-F-As-G, wenige Takte später variiert es zu Fis-E-Fis-Dis und kommt dann mit originalen Intervallverhältnissen H-A-H-Fis (T. 34) zurück. In Takt 60 gewinnt es in ausgedehnter Form mit den ursprünglichen Noten die Oberhand, nur um weniger als zehn Takte darauf völlig zu verstummen und neuen Kombinationen Platz zu machen.

Wie ergeht es nun dem Kernmotiv? Nach der Eröffnung greift es direkt in Takt 15 der Bass auf, verwandelt es in umgekehrter Form (also wie in der ersten Beantwortung) einer rasch aufsteigenden großen Sekund zu einem ruppigen „Schluckauf“ mit wiederholter zweiter Note (A-H-H). Danach tritt das nach unten gerichtete Kernmotiv in ungleichen Abständen zunächst in den Flöten (T. 31) und dann im Blech (T.42) auf, bei letzterem unter Beimischung der nach oben gerichteten Form. Ab Takt 77 dominiert es vorübergehend das Geschehen und wird in schnellen Wechseln von den tiefen Streichern und den Holzbläsern präsentiert, beantwortet durch eine variierte Form mit kleiner Sekund und ohne Akzent auf die erste Note. Unschlüssig bin ich, ob die Holzbläserakzente in Takt 90 mit den isolierten Noten C und G aus dem Kernmotiv entstammen: Es macht akustisch durchaus den Anschein, optisch hingegen nicht. Die Form aus Takt 15 in den Bässen kehrt in Takt 130 wieder, die ersten drei Male mit gehaltener dritter Note, dann unzählige Male mit kurzer dritter Note, wobei die Einsätze an immer neuen Taktzeiten auftaucht. Drei Mal noch trumpft das Kernmotiv auf, einmal vor dem Zerfall des Tempos hin zum Adagio des Mittelteils und zwei Mal im dritten Abschnitt bei neu gefundenem raschen Tempo: Zunächst baut sich das Motiv durch die einzelnen Hörner fugatohaft auf (T. 592), bevor es in mehreren gleichzeitig erstrahlt; und schließlich kurz vor Ende (T. 645) steigert es in rasenden Wechseln zu enormer Intensität, wenngleich es maximal ins Mezzoforte aufbegehrt. Fast wie ein Scherz mutet es an, dass Eliasson im allerletzten Takt das Kernmotiv noch einmal auftauchen lässt, allerdings fast unhörbar versteckt in den zweiten Violinen, worüber das Flügelhorn singt.

Kurz sollte noch das Motiv der ersten Beantwortung des Kernmotivs angeleuchtet werden: A-G-Dis. In seiner intervallischen wie rhythmischen Präsenz kehrt es vor dem Adagio mehrfach unverändert (T.120, 201, 203, 205, 206, 208, 297, 310, 311, 319, 329, 330, 331, 342, 344, 345, 347, 354) oder variiert, aber weiterhin identifizierbar (T. 126, 320, 321) wieder. Somit erweist sich die zuvor getroffene These als nicht ganz richtig, das Kernmotiv bliebe gleich, während sich die Beantwortungen metamorphosieren. Schließlich ändert sich auch das Kernmotiv, während es dennoch erkennbar bleibt, wohingegen ein Teil der ersten Beantwortung ebenso unverändert bleibt, jedoch ab dem Adagio verstummt. Spätestens dadurch setzt sich das Kernmotiv als alleine dominierend durch.

Eliasson erkannte also trefflich, dass sich die fanfarenartige erste Beantwortung nach immerhin zwanzigfachem, lediglich transponiertem Erscheinen erschöpft hat und sah so von einer weiteren Fortführung in den anderen beiden Abschnitten der Großform ab. Ebenso erging es der beobachteten Erweiterung der zweiten Beantwortung A-G-A-E, die nach kurzer Zeit schon ausgedient hat. Das universal einsetzbare und stets den Ankerpunkt setzende Kernmotiv, allerdings mit der unversiegbaren Kraft einer absteigenden großen Sekund, darf weiter bestehen und bewährt sich die gesamte Länge über. Zwar zieht es sich im Adagio etwas zurück, allerdings nur, um im dritten Abschnitt mit abenteuerlichen Überlagerungen und letztlich höchster Intensität an die Bildoberfläche zurückzukehren.

Das Adagio wirkt rückblickend wie die Ruhe vor dem Sturm, der im dritten Abschnitt losbricht und mit extremer Rhythmik und Wucht auf den Hörer niederbrettert. Die Wahl eines Flügelhorns als Soloinstrument darf als liebevolle Hommage an die Trompete als Eliassons Hauptinstrument angesehen werden, zudem als Verweis auf seine Herkunft aus der Jazzmusik. In Marschkapellen unterstützt das aus der Jagd herrührende Flügelhorn die Hörner und so übernimmt es in Eliassons Vierter Symphonie auch das Motiv des Horns, das nach einer aufsteigenden Quint H-Fis in Form der zweiten Beantwortung des Kernmotivs herabsteigt: Fis-E-Es, also Ganztonschritt und Halbtonschritt. Den Halbtonschritt kehrt das Flügelhorn allerdings um, geht also nach dem Quintsprung aufwärts zunächst den Ganztonschritt abwärts, nun allerdings den Halbtonschritt wieder nach oben.

(III.d              Einblick in die Harmonik)

Auch harmonisch bewegt sich Eliasson nahe an einigen typischen Jazzakkorden, ohne dabei jemals in die Sphäre jazziger Anklänge zu geraten. Immer wieder erklingen Septakkorde, meist jedoch mit alterierter Terz (suspended) und mit hoch alterierter Sept, sowie verminderte Drei- und Vierklänge. Besonders die Terz nutzt Eliasson zum Verzerren, lässt sie aus oder legt dem Akkord die Dur- und die Mollterz bei. Ein Großteil der vorkommenden Akkorde lässt sich dabei auf die beiden Modi Eliassons zurückführen: Direkt der eröffnende Zusammenklang D-F-G entstammt dem transponierten zweiten der als Vorbetrachtung unter die Lupe genommenen Akkorde des Komponisten: ursprünglich C-D-A-B transponiert dieser zu F-G-D-Es. Wenige Takte später erklingt der Zusammenklang E-Cis-Fis, der sich auf denselben Akkord Eliassons beruft: aus C-D-A-B wird E-Fis-Cis-D. Relativ zu Beginn des Adagios (Takt 426) erklingt sogar C-Es-Ges-Des, der vollständige transponierte erste Akkord Eliassons: H-D-F-C. Kurzzeitig können wir sogar das gesamte Tonmaterial aus einem von Eliassons Modi beziehen, so gleichen beispielsweise die ersten vier Takte des Adagios (bis auf das als Durchgangsnote verwendete E) dem Tonmaterial aus dem ersten der beiden Modi, nur transponiert nach F. Nach diesen vier Takten erreicht Eliasson einen fis-Moll-Akkord, wozu er den gesamten Modus um einen Halbtonschritt nach oben transponiert auf Fis, was ebenso nur für anderthalb Takte gilt, bevor die Musik weiter voranschreitet. Dies durchzuexerzieren, würde den Umfang dieser Grundlagenforschung überschreiten, könnte aber für zukünftige Untersuchungen einen Ausgangspunkt bilden. Die dafür maßgebliche Frage wäre, wie die einzelnen Harmonien im korrelierenden Kontext zusammenwirken und zum zwingend fortschreitenden Fluss werden, wie die einzelnen Stimmen und Linien sich ihr Tonmaterial aus den Modi ziehen und aufteilen sowie was zwischen den kurzen Gravitationspunkten modulatorisch geschieht.

Die Musik Eliassons bleibt ein Mysterium, für die man kaum allgemeingültige Aussagen treffen kann. Lediglich aus den Betrachtungen kurzer Fragmente lassen sich Schlüsse ziehen, die allerdings nur wenige Takte später relativiert werden müssen. Die Undurchdringbarkeit resultiert aus den stets offen gehaltenen Möglichkeiten, in denen Eliasson sich nie beschneidet. Wie also soll man etwas ausformulieren oder gar in geschlossene Regelwerke pressen, was durch innerliches Erspüren gefunden wurde, durch feines Lauschen auf die Natürlichkeit und Organik und durch eine Durchlässigkeit des Wahrgenommenen in die Welt der niedergeschriebenen Töne?

[i][i] https://anders-eliasson-society.com/interview-i-deutsch/

[ii] https://anders-eliasson-society.com/interview-i-deutsch/

[iii] Bachs D-Dur-Präludium BWV 850 aus dem Wohltemperierten Klavier 1 beispielsweise fließt unentwegt hinab und folgt stetig und widerstandslos der natürlichen Schwerkraft, bis es ein neues Zentrum (hier die Subdominante als harmonisch tiefsten Punkt) erreicht und von dort nach oben katapultiert wird zu einem Höhepunkt, der wider Erwarten in der Einstimmigkeit eintritt. Die Beschreibung könnte ebenso der energetischen Form eines Eliasson-Werks entsprechen. Der harmonischen Welt Eliassons näher stehen die vertrackten Fugen a-Moll und h-Moll aus eben demselben Bach-Werk, hier lassen sich deutliche Parallelen ziehen.

[iv] https://anders-eliasson-society.com/interview-i-deutsch/

[v] https://anders-eliasson-society.com/interview-ii-deutsch/

[vi] https://www.nmz.de/online/kontinuierlicher-seinsprozess-jenseits-der-gegenstaendlichen-welt-zum-hundertsten-geburtstag-

[vii] https://www.theguardian.com/music/2011/jun/27/bbcsso-manze-review

[viii] https://www.dn.se/kultur-noje/konsertrecensioner/konsertrecension-katarina-karneus-sang-ar-som-en-symfoni-i-sig/?fbclid=IwAR0yx8o6-SPilaXv0dUrIP1GL0UUc-hQK59CLQb25VMT-efyVntcIAMoawA

[ix] Tony Lundman, Eliasson’s music strikes hard. Interview article in: Highlights No. 20, Autumn 2006, 6-7.

[x] cf. a) Habakuk Traber, Die Symphonie und ihre Verwandtschaft: Anders Eliassons Vierte Symphonie, in: Programmheft (“Introduktion“) Deutsches Symphonie-Orchester Berlin 8. Mai 2015 p 8., b) https://de.wikipedia.org/wiki/4._Sinfonie_(Eliasson)